Angeln für die Artenvielfalt

Expedition: Lebensräume
Projektname: Baggersee

Angeln ist in Deutschland ein Volkssport – oder sollte man besser sagen Naturabenteuer? Der Deutsche Angelfischerverband nennt jedenfalls in den „10 guten Gründen fürs Angeln“ den Natur- und Gewässerschutz, das Naturerlebnis und den Stressabbau in der Natur an erster Stelle. Aber vertragen sich Angeln und Naturschutz? Und können Anglerinnen und Angler vielleicht sogar die Artenvielfalt beleben? Diese Fragen will das Projekt Baggersee beantworten.

Drei bis vier Millionen Anglerinnen und Angler gehen im Laufe eines Jahres mindestens einmal raus ans Wasser. Die einen suchen das Naturerlebnis, den anderen kommt es auf einen dicken Fang an, wieder andere genießen vor allem das Gemeinschaftserlebnis mit Freunden. Wenn Anglerinnen und Angler ihrem Hobby nachgehen, besteht die Gefahr, dass sie die Natur beeinträchtigen – etwa indem sie auf dem Weg zum Angelplatz brütende Vögel aufscheuchen, die Pflanzen am Ufer platt treten oder durch das Einsetzen bestimmter Fischarten die Artengemeinschaften im Ökosystem See beeinflussen. Und schließlich können abgerissene Angelhaken und Schnüre für Wasservögel zur Falle werden.

SDG6, Foto: Falk Weiß

Baggersee, Foto: Falk Weiß

(© Falk Weiß)

Baggerseen - unterschätzte Natur

„Binnengewässer werden ganz gerne ignoriert, wenn es um Artenvielfalt geht“, meint Arlinghaus. „Und erst recht die künstlich geschaffenen Gewässer. Wir wollen zeigen, dass es dort eine unterschätzte biologische Vielfalt gibt und eine Nutzergruppe, nämlich die Angler, die sich um diese Vielfalt kümmern.“ Seit 2016 arbeiten Biologen, Fischereiwissenschaftler und Umweltökonomen vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei und der Technischen Universität Berlin mit dem Anglerverband Niedersachsen im Projekt Baggersee zusammen. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) haben sie mehr als 40 Baggerseen zwischen Elbe, Weser und Ems in den Blick genommen. Die meisten der Kiesseen waren im Besitz von Anglervereinen, einige Vergleichsseen nicht. Dazu muss man wissen: Besitzen oder pachten Anglervereine Seen oder andere Gewässer, gehen damit Rechte und Pflichten einher; einerseits das Recht zu fischen, andererseits die Pflicht die Gewässer zu pflegen.

Angler, Foto: Eva-Maria Cyrus

Artenzählung im Wasser und am Ufer

Um die beiden Typen von Seen miteinander vergleichen zu können, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwei Jahre lang das Leben in und am Wasser stichprobenartig vermessen: Sie zählten Bäume, Sträucher, Gräser, Farn und Blütenpflanzen, bei Tauchgängen auch die Wasserpflanzen. Vom Boot aus suchten sie das Wasser nach Fröschen und Froschlaich ab, das Ufer nach Libellen. Fische wurden vom Ufer aus gekeschert und in Stellnetzen gefangen, Insektenlarven in Sedimentproben gezählt und das Vorkommen von Wasser- und Singvögeln mittels Tonaufnahmen quantifiziert. Ermittelt wurde auch die Zahl der Angler, Spaziergänger oder Badenden, der Müll, den sie hinterlassen, sowie die Größe der Wege und Angelplätze am See.

Libellen, Foto: Florian Moellers

Insgesamt fanden die Forscherinnen und Forscher mehr als 290 verschiedene Tierarten und 274 Pflanzenarten. Darunter waren 33 Libellenarten, 160 wirbellose Wasserorganismen wie beispielsweise Insektenlarven, 34 Arten Wasservögel und 36 Singvögel sowie 22 Baumarten. Dass künstlich geschaffene Baggerseen damit einen Artenreichtum bieten, der an natürliche Seen heranreicht, hat die Wissenschaftler überrascht. „Die Fischgemeinschaften im Baggersee unterscheiden sich vom Artenreichtum und von der Zusammensetzung her überhaupt nicht von Naturgewässern“, sagt Robert Arlinghaus.

Kaum Unterschiede zwischen den Baggerseen

Und wie schneidet die Flora und Fauna der Anglerseen im Vergleich zu den unbewirtschafteten Baggerseen ab? Die Natur zeigte sich dort mindestens genauso vielfältig. Lediglich bei den Fischen brachte die statistische Auswertung eine auffällige Abweichung ans Licht: Während in den von den Anglervereinen bewirtschafteten Seen fünf bis zwölf Arten schwammen, waren es in den anderen Seen maximal acht, meistens aber nur drei bis fünf Arten. Und das, obwohl die Seen im Besitz der Vereine von Erholungssuchenden und Anglern wesentlich stärker frequentiert werden. Dem Artenreichtum hat das offenbar nicht geschadet. Das gilt auch für den Naturschutzwert der beobachteten Tier- und Pflanzenarten. Arten, die auf der Roten Liste in Deutschland als bedroht oder gefährdet eingestuft werden, fanden die Biologen in beiden Seentypen gleich häufig. Dazu zählen beispielsweise der stark gefährdete Bitterling, der zu den Karpfenartigen zählt, der Fischadler, der Biber oder die Zierliche Moosjungfer, eine gefährdete Libellenart. An einem der Angelseen fand das Team sogar eine Algenart, die in Niedersachsen lange als ausgestorben galt.

Flachwasser, Foto: Falk Weiß

Uferstreifen – Brutstätte der Artenvielfalt

Besonders wichtig für den Artenreichtum sind die Uferstreifen entlang des Sees. Sie zählen zu den produktivsten Habitaten eines Seeökosystems. „Dort gibt es die meisten Strukturen“, erklärt Umweltwissenschaftlerin und Projektsprecherin Eva-Maria Cyrus. „Man kann sich die Uferzonen mit flachem Wasser, in die Zweige und Blätter ragen, wie eine gut eingerichtete Wohnung vorstellen. Fische und andere Tiere können sich dort verstecken und anders als im tiefen Wasser gibt es Nahrung, Wärme und Licht.“ Deshalb untersuchten die Forscher auch, ob die Artenvielfalt begünstigt werden kann, indem solche Flachwasserzonen gezielt geschaffen werden. Hier kommen die Anglervereine ins Spiel. In Workshops besprachen und planten die Angler gemeinsam mit den Wissenschaftlern, wie die Habitate verbessert werden können. Die Umsetzung nahmen die Vereinsmitglieder selbst in die Hand. An vier Seen schufen sie in den Jahren 2017 und 2018 Flachwasserzonen, wo zuvor steil abfallende Ufer waren. Sie hoffen, dass Unterwasserpflanzen hier in Zukunft besser wachsen und Fischen und anderen Tieren einen Schutzraum bieten. Dafür wurden mit Baggern insgesamt 12.000 Kubikmeter Erde bewegt. Außerdem versenkten Vereinsmitglieder Holzbündel entlang der Ufer. Insgesamt 800 dieser drei Meter langen und mehrere hundert Kilo schweren Gebinde aus Zweigen und Reisig wurden in die vier Seen eingebracht.

Die Natur erobert die Gewässer – das braucht Zeit

„Ein Jahr nach der Habitatverbesserung konnten wir bereits feststellen, dass Unterwasserpflanzen die neu geschaffenen Flachwasserzonen besiedelt hatten. Und wir haben beobachtet, dass die Totholzbündel von Fischen und Kleinstlebewesen wie Wasserflohkrebsen, Libellen- und Fliegenlarven aufgesucht wurden“, berichtet Eva-Maria Cyrus. Allerdings wisse man noch nicht, ob sich dadurch tatsächlich der Bestand der Tierarten vergrößert hat oder ob es nur eine Verschiebung gegeben hat. Holger Machulla hat als Vorsitzender des Angelvereins ASV Neustadt am Rübenberge mitgeholfen, zwei der vereinseigenen Baggerseen durch solche Maßnahmen aufzuwerten und weiß, dass die Natur Zeit braucht, um sich zu entwickeln. „Wir haben die Hoffnung, dass es ein Anschlussprojekt gibt, an dem wir uns beteiligen können. Dann stellt man vielleicht fest, dass es mehr Fische gibt und mehr Wasservögel. Ich fände es spannend, die Entwicklung über einen längeren Zeitraum zu verfolgen.“

Junge am See, Foto: Falk Weiß

Für Robert Arlinghaus hat das Projekt Baggersee schon jetzt gezeigt, dass künstlich geschaffene Gewässer sehr naturnah sein können: „Die Natur erobert sich sozusagen solche Gewässer und gestaltet sie mit natürlichen Artengemeinschaften aus“. Nach zwanzig oder dreißig Jahren habe sich ein Baggersee so in die Landschaft eingefügt, dass er kaum noch von einem natürlich entstandenen See zu unterscheiden ist. Baggerseen sind bedeutend für den Erhalt der Artenvielfalt, aber auch Lebensraum für bedrohte Arten – und Angler können wesentlich dazu beitragen.

„Wir müssen das tun, wenn wir die Angelei erhalten wollen“
Holger Machulla, Angler und Vereinsvorsitzender

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