Artenschutz auf dem Balkon

Expedition: Wildnis in der Stadt
Projektname: Urbanität und Vielfalt

Der Artenverlust schreitet rasant voran. Für das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte ist der Mensch verantwortlich. Mithilfe der Bevölkerung wollen Forschende dem großen Sterben etwas entgegensetzen und Pflanzenarten erhalten, die auf Trockenrasen in Berlin und Brandenburg heimisch sind.

Die zarten Pflänzchen sind erst wenige Tage und Wochen alt. In den Saatschalen drängen sich die Keimlinge dicht an dicht. Es sind Zehntausende von rund 30 Arten, die hier auf dem Versuchsgelände des Botanischen Gartens der Universität Potsdam im Frühbeetkasten wachsen. Vorsichtig lösen Ariella Zacharia und Jonathan Neumann jedes Pflänzchen einzeln aus der Erde. Sie brauchen mehr Platz und werden heute umgetopft. „Pikieren“ nennen das die beiden angehenden Biologen, die als studentische Hilfskräfte im Projekt „Urbanität und Vielfalt“ arbeiten. Sie gehen sehr behutsam vor, denn es sind besondere Pflanzen, die hier herangezogen werden: Sie alle gehören in Brandenburg zu den seltenen und bedrohten Arten. Sobald sie etwas kräftiger sind, sollen sie unter der Obhut von Pflanzenpatinnen und -paten in Berlin und Brandenburg weiter wachsen und gedeihen, sich auf Balkonen und in Stadtgärten vermehren.

Anzucht der Wildpflanzen, Foto: Falk Weiß

Der Raue Löwenzahn, die Sand-Strohblume, die Gold-Distel oder das Schiller-Gras – alle diese Pflanzen haben in den vergangenen Jahrzehnten einen Großteil ihres Lebensraums verloren. Das Projekt „Urbanität und Vielfalt“ bringt Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammen, um neue Refugien für die gefährdeten Pflanzen zu schaffen – vor allem in der Stadt. „Das ist Naturschutz ganz konkret und praktisch“, sagt Koordinatorin Gesa Domes über das Projekt, das bereits 2017 gestartet ist und seitdem mehr als 1000 Pflanzenpatenschaften vermittelt hat. „Mitmachen kann jede und jeder, sagt sie. Neben Berlin und Brandenburg sind Projektpartner auch in Dresden und Marburg aktiv.

Die Stadt als Rückzugsort für bedrohte Arten

Auf den Innenhöfen einer Berliner Wohnungsgenossenschaft, auf privaten Balkonen und in Kleingärten und auch auf Streuobstwiesen, die der NABU pflegt, wachsen bereits selten gewordene botanische Kostbarkeiten aus dem Projekt, die ganz besondere Ansprüche haben: Sie mögen es trocken und nährstoffarm, denn nur dann können sie sich gegen andere Arten behaupten. Trockenrasen nennen die Botanikerinnen und Botaniker eine solche Pflanzengemeinschaft, die ursprünglich durch Ziegen- und Schafbeweidung auf den sandigen, mageren Böden der Mark entstanden ist. „Gerade in Berlin und Brandenburg sind solche Lebensräume durch die veränderte landwirtschaftliche Nutzung stark bedroht“, erklärt Projektkoordinator Christian Schwarzer. „Urbane Räume könnten für sie zu Rückzugsorten werden“, hofft der Biologe.

Jonathan Neumann, Christian Schwarzer und Gesa Domes (v.l.n.r.) begutachten die Keimlinge, Foto: Falk Weiß

34 Arten haben die Forschenden unter ihre Fittiche genommen, um sie mithilfe der Bevölkerung zu vermehren und so zu erhalten. Darunter sind Arten, die mit attraktiven Blüten locken, wie etwa das blaublühende Berg-Sandglöckchen oder die weißblühenden Graslilien, für die sich die Patinnen und Paten leicht begeistern lassen. Aber auch unscheinbare Pflanzen – wie verschiedene Gräser und das Ohrlöffel-Leimkraut – haben schon so manchen Blumenkasten und Garten in Potsdam und Berlin erobert. „Die Leute wollen naturnah gärtnern und etwas für die Artenvielfalt tun. Das Interesse ist groß“, sagt Gesa Domes.

Vom Balkon zurück in die Natur

Auch auf der sogenannten Archefläche des Projekts im Jelena-Šantić-Friedenspark in Berlin-Hellersdorf wachsen die Pflanzen in kleinen Beeten, können hier bestaunt und gepflegt werden. Hier finden zudem umweltpädagogische Projekte statt, die Wissen über die seltenen Pflanzen und ihren Schutz vermitteln. „Man kann nur das schützen und wertschätzen, was man kennt“, erklärt Gesa Domes. „Deshalb ist es auch so wichtig, die Arten zu kennen, sonst weiß ja niemand, was verloren geht.“ Wer vor der eigenen Haustür oder vor dem eigenen Fenster die gefährdeten Pflanzen im Blick habe, sie sehe, fühle, spüre, sei nachhaltig motiviert, diese auch zu schützen. Ergänzt wird das Angebot durch Exkursionen in die natürlichen Lebensräume der Arten, Vorträge und Workshops.

Inzwischen kann das Projekt auf ein gutes Netzwerk aus „Vollblutpflanzenrettern“ zählen – sie ziehen die Pflanzen groß, ernten später die Samen, aus denen neue Pflanzen angezogen werden und helfen auch dabei, die Jungpflanzen an geeigneten Standorten wieder auszuwildern. Mehr als 10 000 Pflanzen haben so bereits den Sprung vom Balkon zurück in die Natur geschafft und wachsen nun auf wilden Wiesen, in Parks oder in Naturschutzgebieten. Wie viele der Pflanzen dort überleben und sich vermehren können und welche Arten davon besonders profitieren, wird wissenschaftlich untersucht. Welche Bodeneigenschaften und Umweltbedingungen fördern etwa den Erfolg der Auswilderung und das Wachstum? Die Forschenden ermitteln zudem, ob es durch die Vermehrung und Anzucht genetische Veränderungen bei den Pflanzen gibt. „Gerade bei seltenen Arten ist die genetische Vielfalt unheimlich wichtig und oft ungenügend erforscht“, erklärt Christian Schwarzer. Das Saatgut, das in enger Absprache mit den Naturschutzbehörden gesammelt wird, stammt daher von lokalen Vorkommen, die bestens an die jeweiligen Standorte angepasst sind.

Artenschutz hat einen ökonomischen Wert

Für die Projektkoordinatoren hat der Erhalt der Artenvielfalt nicht nur einen ideellen und ethischen, sondern auch einen ganz handfesten ökonomischen Wert. Die Bestäubung von Nutzpflanzen und damit die Ernte von Obst und Gemüse, sauberes Trinkwasser oder saubere Luft – all das ist nur möglich, wenn die Nährstoff- und Wasserkreisläufe funktionieren und die Ökosysteme intakt sind. „Ökosystemdienstleistungen“ heißen diese kostenlos von der Natur gelieferten Dienstleistungen in der Fachsprache. Je weniger Arten in einem Ökosystem leben, desto anfälliger ist es gegenüber Störungen wie Krankheiten oder Klimawandel. Und desto gefährdeter sind auch die menschlichen Lebensgrundlagen. „Alles ist eng miteinander verzahnt und ohne Vielfalt geht es nicht“, betont Gesa Domes. So sind etwa viele Schmetterlings- und Wildbienenarten auf ganz bestimmte Pflanzenarten spezialisiert. Wenn diese verschwinden, haben auch die Insekten keine Chance auf ein Überleben.

Ariella Zaccharia und Jonathan Neumann pikieren die Keimlinge, Foto: Falk Weiß

Wer sich für eine Pflanzenpatenschaft entscheidet, erhält nicht nur die jungen Pflanzen kostenlos, sondern auch Steckbriefe der Arten und eine Anleitung für die Pflege. Falls etwas schief gehen sollte und das Pflänzchen im Balkonkasten nicht wachsen will „ist das auch nicht so schlimm“, sagt Gesa Domes. „Aber natürlich versuchen wir durch eine gute Anleitung und Vorbereitung, Fehler zu vermeiden.“ Die Patinnen und Paten erfahren etwa, welchen Standort die Arten bevorzugen, wie Erde und Pflanzgefäß beschaffen sein sollten und wie man am besten die Samen erntet. Streng geschützte Arten werden ausschließlich auf den Archeflächen und in den botanischen Gärten vermehrt.

Seltene Wildpflanzen im Kleingarten

Für die letzten beiden Projektjahre bis Ende 2022 hoffen Gesa Domes und Christian Schwarzer ganz besonders auf offene Türen und Pforten bei den Berliner Kleingärtnerinnen und -gärtnern. „Wir haben hier teilweise große zusammenhängende Flächen, auf denen parzellenübergreifend mehrere Hundert Pflanzen einer Art wachsen und sich genetisch austauschen könnten. Das bietet noch einmal mehr Möglichkeiten für den Artenschutz.“ Bei einer großen Pflanzaktion werden die Arten vorgestellt und gemeinsam auf die Beete gebracht. Das Projektteam gibt außerdem Tipps für das Sammeln des Saatguts – denn schließlich sollen daraus wieder neue Jungpflanzen entstehen.

Natürlich wünscht sich das Projektteam, dass sich die wilden Schönheiten aus dem Trockenrasen dauerhaft in den Gärten und auf den Balkonen ansiedeln dürfen – auch über das Projektende hinaus – und vermitteln das dafür notwendige Wissen. So benötigen einige Arten etwa Licht zum Keimen, andere wiederum Frost. Alle 34 Arten haben eine besondere Faszination, sagt Christian Schwarzer, doch das Berg-Sandknöpfchen mit seinen zartblauen Blütenköpfen habe es ihm besonders angetan. „Es hat nicht nur eine besonders schöne Blüte, sondern darauf sind oft ganz tolle Insekten zu sehen. Welche das sind, lerne ich aber gerade selbst noch“, sagt er und lacht.

Möchten Sie aktiv werden und selbst bedrohte Wildpflanzen schützen?

Das Projekt „Urbanität und Vielfalt wird gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit sowie durch das Sächsische Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft, das Landesumweltamt Brandenburg und die Stadt Marburg.

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