Nachhaltige Ernährung mit digitaler Hilfe?

Expedition: Einkaufstasche
Projektname: PLATEFORMS

Die Wissenschaftlerinnen Suse Brettin und Sandra Čajić untersuchen, wie sich nachhaltige Ernährungspraktiken und familiäre Arbeitsteilung durch digitale Hilfsmittel und neue Vertriebswege verändern. Für die internationale Studie „PLATEFORMS“ haben sie bei 40 Berliner Haushalten in Einkaufskörbe, Kochtöpfe und Wurmkisten geschaut.

Obstabteilung eines Supermarktes; Foto: Falk Weiß

Szenen wie diese spielen sich wohl jeden Tag in vielen Supermärkten ab: Zwei Menschen wollen nachhaltig einkaufen. Doch vor dem Gemüseregal stellt sich dann die schwierige Frage, was tatsächlich nachhaltig ist, wenn die Auswahl aus regionalen Bio-Gurken in Folie und unverpackten Gurken aus konventionellem Anbau in Südeuropa besteht. Von solchen Entscheidungsschwierigkeiten und der daraus resultierenden „zweckmäßigen Nachhaltigkeit“ haben Suse Brettin und Sandra Čajić in den vergangenen zwei Jahren häufig gehört. Die beiden Wissenschaftlerinnen des Fachgebiets Gender und Globalisierung am Albrecht Daniel Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften haben Berliner:innen aus 40 Haushalten interviewt. Und dabei oft gehört, welche Herausforderungen die Entscheidung für nachhaltigere Ernährung im Alltag mit sich bringt. „Viele Interviewpartner:innen haben uns erzählt, dass sie unzufrieden mit ihrem engen Handlungsspielraum sind – angesichts des marktwirtschaftlichen Angebots und dem eigenen, eingeschränkten Budget an Zeit, Finanzen, Wissen und Fähigkeiten.“

Meistens machen sich Frauen Gedanken über nachhaltige Ernährung

Es bestehe eine Nachfrage nach direkteren und transparenteren Wegen, nachhaltig einzukaufen; der Markt sei in Bewegung, sagt Suse Brettin: „In den vergangenen Jahren sind viele Angebote entstanden, die den Konsument:innen alternative Möglichkeiten bieten, an Lebensmittel zu kommen: Sie können online bestellen, Food-Sharing Apps benutzen, kooperativ gärtnern, Gemüsekisten abonnieren oder in Unverpackt-Läden einkaufen.“ Diese Beobachtung war im Mai 2018 Ausgangspunkt für die Studie „Potenziale von Plattformen der Nahrungsmittelförderung zur Förderung nachhaltiger Ernährungspraktiken (PLATEFORMS)“ im Rahmen des europäischen Kofinanzierungsnetzwerks SUSFOOD2. Sie soll herausfinden, wie die neuen Angebote die Ernährungspraktiken von Menschen verändern, die sich nachhaltig ernähren möchten. Parallel zu den Wissenschaftlerinnen der Humboldt-Universität forschen Projektpartner:innen an Universitäten in Schweden, Irland, Italien und Norwegen zum selben Thema.

Suse Brettin und Sandra Čajić haben in Berlin zusätzliches Augenmerk auf Genderaspekte gelegt. Čajić sagt, dass bereits die Rückmeldungen auf Ihre Suche nach Interviewpartner:innen Rückschlüsse auf die Arbeitsteilung im Haushalt zuließen: „In vierzig Haushalten haben wir nur mit zehn Männern gesprochen. Es wurde deutlich, dass die Initiative, eine bestimmte Plattform zu nutzen, oft von Frauen ausgeht.“ Suse Brettin fügt hinzu: „Zeitbudgetstudien zeigen, dass es immer noch Frauen sind, die den Großteil der Sorgearbeit leisten. Daraus folgt dann, dass es auch meist Frauen sind, die sich Gedanken machen, wie Ernährung nachhaltiger und gesünder sein kann.“

Bio-Label im Supermarkt; Foto: Falk Weiß

Kompost auf dem Balkon

Die Sorge um die Umwelt sei für die Nutzung der neuen Plattformen ausschlaggebend. Suse Brettin sagt: „Viele unserer Interviewpartner:innen haben außerdem einen gesellschaftspolitischen Anspruch. Sie suchen sehr gezielt Versorgungskanäle, bei denen sie mitbestimmen und solidarisch handeln können.“ Kooperatives Handeln begegnete den Wissenschaftlerinnen immer wieder: In den urbanen Gärten, wo am Ende des Tages sogar Tomaten übrigblieben, weil alle nur das Benötigte mitnahmen. Am Stand der Marktschwärmer, wo einige Kund:innen die Landwirt:innen in Dürrezeiten finanziell unterstützten. Oder im digitalen Netzwerk der Biokisten-Abonnent:innen, die in der Saison erstmal planlos vor einem Haufen Schwarzwurzeln standen und dann gemeinsam nach Rezepten fahndeten.

In qualitativen Interviews haben die Wissenschaftlerinnen einen Einblick in alle Entscheidungsprozesse rund um die Ernährung bekommen, von der Einkaufsplanung über das Kochen bis zur Entsorgung. Sie waren erstaunt, auf welche ausgeklügelten Systeme sie trafen. Sandra Čajić erzählt: „Wer regelmäßig im Unverpackt-Supermarkt einkauft, hat zum Bespiel in der Küche häufig Papiertüten in allen Größen und recycelte Gläser, die mit dem Gewicht beschriftet sind, damit man das beim Wiegen direkt abziehen kann.“ Manche Interviewpartner:innen hielten beim Zoom-Interview den Laptop in die Wurmkiste: „Mit dem selbst produzierten Kompost wurden dann die Pflanzen auf der Terrasse gedüngt. Das war ein richtiger Kreislauf.“ Die Wissenschaftlerinnen waren überrascht, dass ein Viertel der interviewten Haushalte mitten in der Großstadt kompostierte – mal im Keller, mal auf dem Balkon.

Supermarkt; Foto: Falk Weiß

Nicht nachhaltig genug?

Vor allem das Planen und Auswählen der Produkte erleichtern den nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln, fasst Sandra Čajić die Ergebnisse zusammen: „Es ist interessant, dass durch digitale Plattformen die Arbeitsteilung zumindest in diesem Schritt gerechter gestaltet wird. Paare oder Familien wählen gerne gemeinsam aus.“ Bei anderen Angeboten verlässt man sich sogar völlig darauf, was der Hof liefert. Dadurch seien bei der Zubereitung allerdings auch mehr Recherche und Kreativität nötig. „Dann sind wir wieder bei vergeschlechtlichten Aspekten“, sagt Suse Brettin: „Wer kann kochen in der Familie? Wer weiß um Saisonalität und Regionalität? Wer hat Zeit, sich darum zu kümmern? Oder von wem wird dieser Zeitaufwand abverlangt und von wem nicht?“

Immer wieder, berichten die Wissenschaftlerinnen, hätten Interviewpartnerinnen geäußert, dass sie trotz großem Aufwand und aller Sorgfalt stets das Gefühl hätten, nicht nachhaltig genug zu leben. „Die Gesellschaft diskutiert – zum Glück – sehr intensiv über nachhaltigen Konsum, Fleischverzicht, regionales und saisonales Essen“, sagt Suse Brettin. „Aber dadurch fühlen viele Frauen einen großen Anspruch auf sich lasten.“ Ein Anspruch, der durch individualisierte Kaufentscheidungen allein nicht zu erfüllen sei. Nachhaltige Ernährung müsse ein gesamtgesellschaftliches Gut werden, für das politische Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten. Das internationale Konsortium von „PLATEFORMS“ wird deshalb politische Handlungsempfehlungen formulieren. Geplant ist unter anderem eine Vertiefungsstudie, bei der auch Produzent:innen von ihren Erfahrungen mit den neuen Vertriebswegen berichten sollen. Suse Brettin fasst zusammen: „Ideen wie Direktvermarktung existieren natürlich schon länger, aber es ist hilfreich, empirisch festzustellen, dass sie Früchte tragen und positiv bewertet werden. Man muss das Rad nicht neu erfinden, die bestehenden Projekte und Strukturen müssen nur gefördert und bestärkt werden.“

Durcheinander im Supermarktregal; Foto: Falk Weiß

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